Erinnern Sie sich an ihr letzten Kauf eines Konsumartikels? Unter dem Einfluss der Covid19-Pandemie, sehr wahrscheinlich im Supermarkt oder online? Bestimmt sind Sie dabei auf unterschiedlichste „Sonderangebote“ gestoßen. Sie gehören beim Shoppen zum gewohnten Bild und in den sehr beliebten Zeiten des Schlussverkaufes halten wir sogar explizit Ausschau nach ihnen.
Es ist sehr wahrscheinlich, dass Sie bei der „Schnäppchenjagd“ den Discountpreis mit der unverbindlichen Preisempfehlung beziehungsweise dem sogenannten „Streichpreis“, der in der Regel darunter steht, verglichen haben. Möglicherweise haben Sie dann gedacht: „Wow, das ist jetzt aber günstig, da muss ich zuschlagen!“
In diesem Moment hat der Ankereffekt gegriffen. Einer der ältesten und bekanntesten Verkaufstricks im Retail, unter den Heuristiken (Behavior Pattern) der absolute Superstar und in unzähligen Versuchen immer wieder untersucht und bestätigt.
Da der Ankereffekt gerade in Verkaufsituationen einen starken Einfluss ausüben kann, ist ein gezielter Einsatz im besonderen Maß für die Preispolitik und Preiskommunikation eines Unternehmens interessant.
Im folgenden werfe ich einen genauen Blick auf die psychologischen Prozesse die beim „Anchoring“ zum Tragen kommen, beschreibe bekannte Feldstudien und Anwendungsfälle und erläutere, wie Sie den Ankereffekt sinnvoll im Marketing und Vertrieb einsetzen können.
„Erster alles!“ – Wie funktioniert der Ankereffekt?
Beim klassischen Sonderangebot dient der (durchgestrichene) Normalpreis als „Preisanker“ beziehungsweise. „Rahmen“ (Framing-Effekt) mit dem Sie automatisch und mehr oder weniger bewusst den Discountpreis vergleichen. Je größer der Unterschied ausfällt, desto attraktiver erscheint das Angebot und desto stärker entwickelt sich ein Kaufdruck.
Das ist soweit logisch nachvollziehbar. Interessant wird es allerdings, wenn wir eine Zahl als Anker für unsere (Ein-)Schätzung nutzen, die eigentlich nichts mit dem Preis zu tun hat.
Eines meiner ganz persönlichen Lieblingsexperimente zur absurden Wirkung des Ankereffekts hat der amerikanische Psychologe und Verhaltensökonom Dan Ariely (2008) mit seinen Student:Innen durchgeführt: Ariely bat die Student:Innen seines Seminar darum, die letzten beiden Ziffern ihrer Sozialversicherungsnummer auf einem Zettel zu notieren. Dann bot er ihnen eine Flasche Wein zur Versteigerung an und fragte die Student:Innen, wieviel sie bereit wären für die Flasche zu bezahlen.
Obwohl die vor der Versteigerung notierte Zahl nichts mit dem Wein zu tun hatte, boten die Student:Innen, die höhere Zahlen notiert hatten, deutlich mehr (durchschn. 27,91 $) für den Wein, als diejenigen Student:Innen, die niedrigere Zahlen aufgeschrieben hatten (durchschn. 8,64 $).
Das Experiment zeigt, wie die Nennung beziehungsweise Wahrnehmung einer beliebigen Zahl im Vorfeld, eine darauf folgende Schätzung beziehungsweise ein darauf folgendes Urteil beeinflusst.
„Die Urteile von Menschen werden von einer Zahl beeinflusst, die offenkundig keinen Informationsgehalt hat.“ (Tversky und Kahneman 1974).
Dramatisch zeigt sich die Wirkungsmacht des Ankereffekts jenseits der Preisgestaltung bei dem 2006 durchgeführte Experiment von Englich, Mussweiler und Strack: Die Wissenschaftler haben deutsche Richter:Innen mit mehr als 15 Jahren Berufserfahrung die Fallbeschreibung einer Ladendiebin vorgelegt und sie daraufhin gebeten mit zwei Würfeln zu werfen. Die gezinkten Würfel zeigten in Summe als Ergebnis immer nur drei oder neun Augenzahlen an.
Direkt nachdem die Richter:Innen gewürfelt hatten, sollten sie angeben, zu wieviel Monaten Freiheitsstrafe sie die Ladendiebin aus der Fallbeschreibung verurteilten würden. Diejenigen Richter:Innen, die eine Drei gewürfelt hatten, wollten die Verurteilung bei 5 Monaten ansetzen, die anderen, die eine Neun gewürfelt hatten, waren bereit die Diebin zu acht Monaten zu verurteilen.
Das Ergebnis des Feldexperiments mit den Richter:Innen, denen man allgemein Sachlichkeit und Objektivität zuschreibt, zeigt wie stark die Wirkung des Ankereffekt ist.
Definition des Ankereffeks:
Menschen werden bei der Wahl und Nennung von Zahlenwerten von vorangegangenen oder momentan vorhandenen Umgebungsinformationen beeinflusst, ohne dass ihnen dieser Einfluss bewusst wird. Die Umgebungsinformationen haben selbst dann Einfluss, wenn sie willkürlich und für die Entscheidung eigentlich irrelevant sind.
Laien und Expert:Innen sind gleichermaßen betroffen.
Ankereffekte beeinflussen nicht nur die Zahlungsbereitschaft von durchschnittlichen Konsument:Innen und deren Preiswahrnehmung, sondern auch die Preisurteile von Expert:Innen. So können sich selbst Verhandlungsprofis wie z. B. Immobilienmakler:Innen dem Ankereffekt nicht entziehen. Dies haben die Wissenschaftler Gregory Northcraft und Margaret Neale (1987) in einem Feldexperiment getestet, bei dem Makler :Innen den Wert eines Hauses schätzen sollten. Den Makler:Innen wurden Exposés mit ausführlichen Informationen zum Objekt zur Verfügung gestellt in denen auch Vergleichspreise der Region enthalten waren. Der Haken: Den Makler:Innen wurden unterschiedlich hohe Vergleichspreise vorgegebenen, die dann als Anker fungierten. Je nach der Höhe des Listenpreises variierten die Preise der Makler:Innen um mehr als 7.000 Dollar.
Interessanterweise spielt nicht nur die Höhe des Ankers eine Rolle für die nachfolgende Schätzung, sondern auch die Form und Präzision eines Ankers. Das bedeutet, dass eine „krumme“ Zahl die Wirkung eines Ankers, im Gegensatz zu einer gerundeten Zahl, erhöhen kann (Loschelder, Stuppi und Trötschel, 2013). Das dahinter stehende Wirkprinzip ist Plausibilität – eine krumme Zahl vermittelt dem Rezipienten den Eindruck einer gut überlegten Schätzung.
Stabilität des Ankereffekts
Die Robustheit und Stabilität des Ankereffekts zeigt sich besonders deutlich, wenn nach der Nennung eines beliebigen Ankerwerts ein darauf folgende stabile Zahlungsbereitschaft entsteht. Wir also nicht nur im Moment der Nennung des Ankers für ein bestimmtes Gut einen entsprechend hohen oder niedrigen Preis schätzen, sondern diese Schätzung dann auch zukünftig für dieses Gut unseren Maßstab bildet (Ariely, Loewenstein und Prelec, 2003). Dies erklärt auch warum dauerhafte Preissenkungen zu einem Verfall des Wertgefühls bei Konsumenten führen können und diese sensibel auf Preiserhöhungen reagieren.
Ein weiteres Beispiel für die Stabilität des Ankereffekts ist das Phänomen, dass Menschen, die von einem teuren an einen billigeren Wohnort ziehen, im Verhältnis relativ teure Wohnungen beziehen und Menschen die von einem günstigen Wohnort an einen teureren ziehen relativ günstige Wohnungen wählen. Dabei zeigt sich, dass die bisherigen Kosten ihrer Wohnung einen stärkeren Anker bilden, als die bisherige Größe oder Qualität der Wohnung (Simonsohn und Loewenstein 2006).
Wie können Sie den Ankereffekt aktiv nutzen?
Wir können dem Ankereffekt kaum entkommen. Selbst dann nicht, wenn wir einen expliziten Hinweis auf den Ankereffekt erhalten (Chapman und Johnson 2002). Umso mehr macht es Sinn, diesen aktiv zu nutzen. Im folgenden zeige ich einige praktikable Ansätze zur konkreten Anwendung des Ankereffekts in unterschiedlichen Einsatzbereichen.
Möglichkeiten der Gestaltung von Sonderangeboten
- Für den klassischen Ankereffekt bei Preisreduzierungen, muss der durchgestrichene UVP gut sichtbar über dem reduzierten Preis platziert werden.
- Bei der Gestaltung von Angeboten nach dem Muster „Kauf 2, nimm 3!“ berechnen Konsumenten selten die effektiven Durchschnittspreise der einzelnen Produkte, sondern bewerten das dritte Produkt (0 €) im Vergleich zu den Originalpreisen der anderen beiden Produkte. Dadurch erscheint der Preiskontrast besonders hoch und wird überbewertet.
- Sind die Preisnachlässe eher gering, lohnt sich eine Preisänderungen mit Prozentangaben. Bei dieser Art von Rabatt rechnen Kunden nur selten nach, denken eher an die prozentuale Ersparnis von 0 bis 100% („Das kostet nur noch die Hälfte!“) und berücksichtigen weniger die zahlenmässige, monetäre Ersparnis. Bei geringen Nachlässen, z. B. von 5 auf 4 € ist der Kontrast vom Originalpreis als Anker zum Discount zu gering, um einen starken Effekt auszulösen.
- Bei hochpreisigen Produkten, bei denen der Originalpreis einen zu hohen Anker darstellt, werden Kunden mit Prozentangaben eher zu Käufen verleitet. 20 % von 1.000 € erscheinen attraktiver, als die Angabe des Rabatts in Form eines Streichpreises.
Tipps zur Preisgestaltung auf eCommerce-Webseiten
- Beginnen Sie mit hochpreisigen Produkten auf Ihrer Startseite oder den Kategorieseiten und platzieren Sie dort niemals die Sonderangebote.
- Hohe Werte auf Produktseiten, z. B. die Anzahl von Rezessionen, eingeloggter Besucher oder verfügbarer Produkte können als Anker eingestreut werden.
- Zeigen Sie in der Cross-Selling-Zone auf der Produktseite alternative teure Produkte. So macht es auch Amazon bei der Darstellung seiner Marketplace-Angebote.
- Da Kunden das Preisgefüge auf Ihrer Website als Referenzwerte zueinander nutzen, macht es Sinn veraltete Produkte nicht als Sonderangebote mit gesenkten Preisen zu verkaufen, sondern teurer.
- Alternativ kann es sinnvoll sein, reduzierte Artikel auf einer gesonderten Waren- bzw. Kategorieseite, getrennt von den regulären Produkten, anzubieten. So können Konsumenten niedrigen Preise schlechter als Referenz heranziehen.
- Versandkosten sollten grundsätzlich erst nach der Kaufentscheidung, am Ende des Verkaufsprozesses aufgeschlagen und deutlich kleiner als die Summe des Warenkorbs dargestellt werden.
Tipps zur Preisgestaltung bei SaaS-Produkten
- Ein Auswahl-Modell von drei verschiedenen Produktangeboten:
1. einem günstigen mit eingeschränkten Basic-Features,
2. einem mittleren Angebot mit erweitertem Feature-Set und
3. einer sehr teuren Variante mit allen Features
hat sich als sehr effektiv erwiesen.
Sowohl das sehr günstige als auch das sehr teure Angebot dienen als Referenzrahmen (Framing) und Anker für das mittlere Produktangebot (sog. „asymmetrisch dominierende Produkt”), welches dann am attraktivsten hinsichtlich Preis und Leistung erscheint. Das Hinzufügen eines dritten, meist sehr hochpreisigen Produktangebots, lässt das vormals teurere und eigentlich vom Unternehmen gewünschte Angebot günstig erscheinen (Decoy-Effect).
- Bei Vertragsprodukten und vor allem Abonnements bietet es sich an, als Vorauswahl den Preis für die monatlichen Kosten auf Basis eine Jahresabos anzuzeigen. Der niedrigere Preis suggeriert dann im Vergleich zu dem monatlich kündbaren Angebot ein geringeres Preisniveau und sorgt so ggf. für die Wahl des teureren Angebots oder einer längeren Vertragsbindung.
Spendenaufrufe und „Pay what you want“-Produkte
- Wenn Sie sich die nächste Wurfsendung einer Spendenorganisation genauer anschauen, werden Sie häufig etwas lesen wie „Schon 10 € helfen!“. Der genannte Betrag fungiert als Anker und Orientierungswert für diejenigen, die über eine Spende nachdenken.
- Auch bei Apps, die Sie kostenlos nutzen können, die allerdings zu Spenden für die Entwickler aufrufen, finden Sie ebenfalls häufig voreingestellte Beträge, die als Anker dienen für ihre Spende.
- Beim „Pay what you want“-Prinzip triggern auch noch andere psychologische Phänomene die Zahlungsbereitschaft, u.a. sozialer Druck und vor allem das Bedürfnis nach einem guten und gerechten Selbstbild (Gneezy et al, 2012).
Tipps für Gehalts-, Honorar- oder Preisverhandlungen
- Im direkten Gespräch ist es in jedem Fall sinnvoll zuerst Ihre eigenen Verhandlungsgrundlage zu nennen, da diese dann als Anker dient und es dem Gegenüber schwerer fällt, seine eigene Vorstellung zu vermitteln.
Es ist klar geworden, dass wir alle dem starken Effekt des Ankers unterliegen. Selbst dann, wenn wir einen expliziten Hinweis auf den Ankereffekt erhalten (Chapman und Johnson 2002) oder wir uns selbst vor der Entscheidungsfindung den Effekt bewusst machen (Furnham & Boo, 2011). Vielleicht denken Sie trotzdem beim nächsten Einkauf im Supermarkt oder online, der Wohnungs- oder Immobiliensuche oder bei Ihrer nächsten Gehaltsverhandlung an den Ankereffekt und können ihn im besten Fall zu Ihrem eigenen Vorteil nutzen.